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Nach Jahren der Krise entstanden in ganz Griechenland im Zuge kollektiver Selbstorganisation dichte Netzwerke an Solidaritätsstrukturen, die zum großen Teil durch jene getragen werden, die vom sozialen und humanitären Niedergang des Landes am stärksten betroffen sind. Unzählige Graswurzel-Initiativen wie soziale Kliniken, gemeinschaftliche Suppenküchen, nachbarschaftliche Bildungsprojekte oder kollektive Gärten fungieren dabei nicht nur als vitale Instrumentarien im täglichen Kampf ums Überleben, sondern sehen sich auch als Triebfeder einer demokratischen Transformation hin zu einer Gesellschaft des solidarischen Zusammenhaltes und Miteinanders.

SoliWebGes0001Politechnion, Exarchia. Im November 1973 begann genau hier, an der technischen Universität, der Aufstand gegen die Militärjunta. Das Aufbegehren wurde damals brutal niedergeschlagen, es markierte jedoch den Anfang vom Ende der Obristenherrschaft. Seit dem gilt der zentrale Stadtteil Exarchia als Ort des Widerspenstigen, Zentrum alternativer Szenen, Hochburg der anarchistischen Bewegung. Die Gebäude der Hochschule selbst sind quasi dauerbesetzt. Nur wenige Meter von diesem für viele historisch bedeutsamen Ort entfernt befindet sich die Solidarische Klinik K.I.F.A (Κοινωνικό Ιατρείο Φαρμακείο Αθήνας/Soziale Arztpraxis Apotheke Athen). Sie ist eine von 16 medizinischen Solidaritätseinrichtungen im Großraum Athen, über 40 sind es in ganz Griechenland. Ärztinnen und Ärzte verschiedenster Fachrichtungen behandeln im K.I.F.A. jeden Tag unentgeltlich. Und noch viele mehr, etwa 100, nicht-medizinische Hilfskräfte unterstützen sie dabei. Ganz so wie in jedem anderen Krankenhaus.

Das kleine Türschild vor dem Hauseingang ist leicht zu übersehen. Mehr braucht es aber scheinbar nicht, denn die Adresse dürfte allgemein bekannt sein. Die K.I.F.A. konnte seit der Inbetriebnahme Anfang 2013 ihre Kapazitäten immer mehr ausbauen und ist mit anderen medizinischen Einrichtungen gut vernetzt. Ein solidarisches Diagnostikzentrum etwa, übernimmt jeden Monat kostenlos 15 Untersuchungen für die es in der K.I.F.A. an Geräten fehlt. Aber auch die Anzahl der PatientInnen, die hier ihre medizinische Grundversorgung in Anspruch nehmen, stieg in den letzten Jahren stetig.

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Im Stiegenhaus, das zu den zwei gemieteten Wohnungen führt in denen die Klinik untergebracht ist, stehen die Menschen bereits Schlange.

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Alexandra kommt zwei Mal pro Woche in die Klinik und hilft unter anderem in der Verwaltung. Hinter ihr hängt ein Transparent einer vergangenen Demonstration gegen die Kürzungen im Gesundheitssektor. Auf diesem steht übersetzt: „Gesundheit ist ein Recht aller!“ In perfektem Deutsch erzählt sie von ihrer Arbeit als Dolmetscherin und von den Schwierigkeiten ausreichend Aufträge zu finden. Ihre Schicht ist für heute gerade zu Ende gegangen und wie alle anderen im Warteraum nebenan wartet sie auf den Dienstbeginn der Apothekerin. Sie ist nämlich nicht krankenversichert, genauso wie über 3,5 Millionen weitere Menschen in Griechenland – das ist in etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Dabei sind Freischaffende wie Alexandra gar nicht mit eingerechnet.

Der Ausschluss vom Gesundheitssystem zeigt sich besonders drastisch in Statistiken, die einen Anstieg der Totgeburten von über 20% belegen. Die Säuglingssterblichkeit ist alleine in den Jahren von 2008-2011 um 43% gestiegen. (Kentikelenis, Alexander, Marina Karanikolos, Aaron Reeves, Martin McKee, and David Stuckler. “Greece’s Health Crisis: From Austerity to Denialism.”, in: The Lancet, Feb. 2014: p748–753.)

Für viele Unversicherte sind Initiativen wie die K.I.F.A. die einzige Möglichkeit auf medizinische Behandlung und Medikamente, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Ein guter Teil jener, die in den solidarischen Zentren ihre Arbeit verrichten, teilen dieselben Lebensumstände mit jenen, die dort in ihrer Not Hilfe suchen.

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„Solidarität bedeutet“, sagt Sokrates, einer der Zahnärzte in der K.I.F.A.: „Ich weiß (kann) etwas und gebe es dir. Und du weißt (kannst) etwas anderes, gibst es mir ohne dass dabei Geld im Spiel ist.“ Er ist bereits pensioniert und kommt drei Mal die Woche in die Klinik. Für seine PatientInnen nimmt er sich viel Zeit, hört sich ihre Geschichten an, redet mit ihnen lange, bevor er mit der eigentlichen Behandlung beginnt.

Es sind gerade die teuren, für viele nicht leistbaren Zahnbehandlungen, die es bald notwendig machten, eine zweite Zahnarztpraxis in der K.I.F.A. einzurichten. Auf die Frage, wie viele Behandlungen pro Woche zustande kämen, zeigt Sokrates den vollen Terminkalender – es sind fast 70. Die beiden Ordinationen sind sehr gut aus gestattet, sodass auch aufwändigere Behandlungen hier durchgeführt werden können. Finanziert werden die Geräte und Medikamente zum Großteil durch Sach- und Geldspenden von Privatleuten. Da sind etwa Instrumente, die pensionierte ÄrztInnen von ihren aufgelassenen Ordinationen mitbrachten. Ein Ultraschallgerät kommt von einer solidarischen Initiative aus Deutschland. Regelmäßige Geldspenden kommen zudem aus dem Umfeld linker Parteien. Mehrere Abgeordnete der Partei Syriza leiten einen Teil ihres Einkommens an die Solidaritäts-Netzwerke weiter. „Bei weiten aber nicht alle“, fügt Sokrates zweifach hinzu.

Zwei Frauen und drei Kinder betreten den Raum zur Anmeldung. Es sind Flüchtlinge aus Syrien, vor wenigen Tagen erst nach Athen gekommen. Sie können sich nur schwer verständigen und wirken sehr verängstigt. Die Mutter der Kinder bittet mich keine Fotos zu machen. „Solidarität bedeutet, Solidarität für alle“, sind sich im Zimmer alle einig. Eigentlich war die erste selbstverwaltete soziale Klinik in Thessaloniki, die gewissermaßen zum Vorbild aller weiteren solidarisch-medizinischen Initiativen im Land wurde, vor allem für unversicherte MigrantInnen ohne Papiere gedacht.

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Ortswechsel. Stadtbezirk Patisia. In einem kleinen Gebäude innerhalb eines Schulareals befindet sich die “Apotheke der Solidarität”. Anders als in der K.I.F.A., beschränkt sich diese Initiative auf pharmazeutische Behandlungen und die Ausgabe kostenloser Medikamente. Sie ist eine Antwort auf die Zuspitzung der prekären Lage in der Arzneigrundmittelversorgung. 2012, im Jahr indem das Solidaritäts-Projekt in Patisia ins Leben gerufen wurde, schuldeten die Krankenkassen den Apotheken bereits Summen in dreistelliger Millionenhöhe. Als Pharmaunternehmen bestimmte Präparate nicht mehr lieferten und sich Engpässe in der Versorgung grundlegender Arzneimittel bemerkbar machten, wurde das System umgestellt: So wie ApothekerInnen, die selbst nur mehr gegen Bargeld von der Pharmaindustrie beliefert wurden, mussten PatientInnen fortan das Geld für ihre Medikamente vollständig vorstrecken. Die nur teilweise Rückerstattungen von den Krankenkassen dauerten bis zu einem Jahr. Für viele Menschen macht es somit keinen Unterschied mehr, ob sie versichert sind oder nicht. “Die Krise betrifft alle”, ist ein oft gehörter Satz diese Tage. Und “Niemand wird zurück gelassen”, meist die Antwort darauf.

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Die solidarische Apotheke in Patisia ist auch ein Beispiel dafür, wie Initiativen dieser Art zustande kommen: Viele derjenigen, die sich in diesem Projekt engagieren sind Teil der Elternvereinigung jener Schule, die das Gebäude, in der die Apotheke untergebracht ist, zur Verfügung stellt. Manche von ihnen gingen sogar selbst einmal in diese Schule und sind dadurch mit der Nachbarschaft seit Langem schon eng verbunden. Man kennt sich, viele hier sind gut miteinander befreundet. Und die Apotheke ist ihr Gemeinschaftsprojekt. Um es auf die Beine zu stellen, war die Hilfe vieler notwendig – von HandwerkerInnen, die die Räumlichkeiten einrichteten, bis hin zu IT-SpezialistInnen, die die Software für das Mediakamten-Management entwickelten. Um den Betrieb an drei Tagen die Woche am Laufen zu halten, ist die ständige Mitarbeit von mindestens 40 Personen notwendig. Etwa 700 Menschen aus der Nachbarschaft unterstützt die kleine Apotheke.

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Mara, eine der vier PharmazeutInnen der solidarischen Apotheke in Patisia ordnet die Medikamente im Lager. Bei der Annahme gespendeter Medikamente wird strikt aufs Ablaufdatum geachtet. Ebenso reglementiert ist die Ausgabe der rezeptpflichtigen Arzneimittel: diese erfolgt nur mit gültiger Verschreibung. Wer sich einen ÄrztInnenbesuch nicht leisten kann, wird an solidarische Kliniken wie die K.I.F.A. weitergeleitet. Auch öffnet die Apotheke erst, wenn mindestens einE ausgebildeteR PharmazeutIn anwesend ist.

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Janis, ein Mann Mitte fünfzig, betritt die Apotheke, in seiner Hand hält er einen Plastiksack. Er hat eine gebückte Haltung und sagt kaum ein Wort. Es dauert eine Zeit lang bis klar wird weshalb er hierher gekommen ist. Vor kurzem erst war sein Vater nach erfolgloser Behandlung an Krebs gestorben. Die Medikamente für die er jetzt keine Verwendung mehr hat, möchte er der Apotheke spenden. Sie sind mehrere Hundert Euro wert. “Vielleicht brauche ich in einem halben Jahr, oder in zwei Jahren selbst Hilfe. Dann weiß ich, dass ich hierher kommen kann.”

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Später am Abend treffen sich Aktive und Interessierte zum offenen Plenum in einem Gebäude gleich neben der Apotheke. In den regelmäßig abgehaltenen Versammlungen werden Entschlüsse durch kollektive Entscheidungsfindungsprozesse gefällt. Einmal im Monat kommt es zu regionalen Vernetzungstreffen und mehrmals im Jahr zur landesweiten Koordination.

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Etwa zwei Dutzend Anwesende debattieren heftig über Organisatorisches und über zukünftige Strategien. Eine Frau beugt sich zu mir herüber und fragt mit einem breiten Lächeln, ob mir nicht etwas aufgefallen sei. Es sind bis auf zwei Ausnahmen sonst nur Frauen hier im Raum. “Das liegt daran”, sagt sie, “dass unsere Männer mit ihren Depressionen zu Hause sitzen und ihren faulen Arsch nicht vom Sofa hoch kriegen”. Es scheint, als wären Frauen in den solidarischen Initiativen nicht nur meist in der Überzahl, sie haben hier auch eindeutig das Sagen.

Tatsächlich führte die Krise in Griechenland auch zu einer Krise der Männlichkeit. Die Konstruktion vom Mann in der Rolle des Ernährers und Familienerhalters wird durch Jobverlust und Perspektivenlosigkeit massiv in Frage gestellt. Während ExpertInnen bereits von Massendepressionen und epidemischen Angstzuständen sprechen, stieg die Selbstmordrate in den vergangenen Jahren um das Zweifache. Drei Viertel der Suizide werden von Männern begangen.

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Initiativen wie die solidarische Apotheke erfüllen meist mehr als nur die eine Funktion, auf die sie sich spezialisiert haben. Die Menschen aus dem Umfeld des sozialen Projektes in Patisia etwa organisieren unter anderem auch Kleiderspende-Aktionen und Gratisnachhilfeunterricht. Die Apotheke im ummauerten Gelände der benachbarten Schule scheint aber auch eine weitere wichtige, abstraktere, Funktion inne zu haben – nämlich die einer Schutzzone: Denn im Stadtteil Patisia terrorisieren die Schläger der neofaschistischen “goldenen Morgenröte” die Straßen zuweilen noch häufiger als anderswo. Immer wieder kommt es zu brutalen Übergriffen auf politische GegnerInnen, vor allem aber auf MigrantInnen und Asylsuchende. Die teils paramilitärisch organisierten Kommandos mit engen Verbindungen zur Neonazi-Szene sind schließlich dafür bekannt, selbst vor gezielten Mordaktionen nicht haltzumachen. Sich außer Haus zu bewegen und am öffentlichen Leben teilzunehmen, ist für die potenziellen Opfer der Rechtsextremen nicht zuletzt eine Sicherheitsfrage. Am großen Platz vor der Apotheke finden Sie abends, wenn die Schule längst schon geschlossen hat, gemeinsamen mit jenen, die sich gerade für die Medikamente anstellen, einen Ort der Zuflucht.

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Familien kommen abends hierher um mit ihren Kindern zu spielen, während eine Gruppe von Migranten im Außenlicht der Apotheke eine Partie Domino spielt. Die politischen Graffitis machen deutlich, dass Rechtsextreme hier nicht erwünscht sind.