Zunächst wieder ein paar Zahlen: Laut eines Zwischenberichtes des parlamentarischen Sekretariats zur Einkommens- und Armutssituation in Griechenland vom September 2014 lebten im Vorjahr (2013) 2,5 Millionen Menschen unter der offiziellen Armutsgrenze, weitere 3,8 Millionen (3,4 Mio. im Jahr 2011, 3 Mio. im Jahr 2010) galten als von Armut und sozialer Ausgrenzung gefährdet. Das sind insgesamt unglaubliche 6,3 Millionen Menschen, oder in etwa 60% der Gesamtbevölkerung. Als „arm“ gelten in Griechenland Einzelpersonen, die mit maximal 432,- Euro im Monat auskommen müssen; für eine vierköpfige Familie sind es 908,- Euro. Diese Definition richtet sich nach einer allgemeinen EU-Richtlinie, wonach jene Personen als „arm“ bezeichnet werden, die über weniger als 60% des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen. Zum Vergleich: In Deutschland etwa gelten demnach Einzelpersonen mit einem Einkommen von 892 Euro pro und Familien mit zwei Kindern bei einem Einkommen von € 1.892,- Euro als „arm“. Tatsache ist aber, dass die Preise in Griechenland in den vergangenen Jahren kaum oder nicht in äquivalentem Maße nach unten angepasst wurden und das Preisniveau in manchen Bereichen sogar über dem Deutschlands liegt. So sind etwa Preise von € 1,70 oder mehr für einen Liter Super-Benzin in Griechenland keine Seltenheit. Gleichzeitig wurden aber Löhne und Gehälter in den vergangenen Jahren drastisch gekürzt (bis 2012 bereits um ein Viertel). Außerdem wurde durch die Beschlüsse der Troika eine Senkung des Mindestlohns von € 751,- auf € 586,- festgelegt. Ebenso wurde das Tarifvertragsrecht auf Weisung der internationalen Gläubiger suspendiert. Maßnahmen, die im sogenannten „memorandum of understanding” bestimmt wurden und die im Übrigen – wie etwa die Ausgabenkürzung im Gesundheitsbereich auf ein EU-Niedrigstniveau von maximal 6% – ohne parlamentarischen Beschluss durchgesetzt wurden. Einer der Gruppen, die naturgemäß am stärksten von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind, ist die der Arbeitslosen. Die Quote war Ende 2013 zwischenzeitlich auf 28% gestiegen, im Jahr 2014 auf 25,5% wieder gesunken, was jedoch zum großen Teil durch den massiven “brain drain”, also der Flucht des Arbeitskräftepotentials ins Ausland erklärt wird. Die Jugendarbeitslosigkeit war 2013 zwischenzeitlich sogar auf fast 70% gestiegen. Dabei gilt für alle Betroffenen: Die Arbeitslosenhilfe von 360,- Euro im Monat wird für maximal ein Jahr ausgezahlt – danach ist Schluss. Eine allgemeine Sozialhilfe oder Grundsicherung gibt es nicht. Laut Erhebungen von UNICEF und Eurostat geht zudem hervor, dass eine halbe Million Kinder von Armut unmittelbar betroffen sind. Rund ein Viertel der Bevölkerung hat keine Ressourcen um ihren Kindern täglich eine warme Mahlzeit mit Fleisch oder Fisch zu bieten. Auch hat die neue Armut in Griechenland heute ein weibliches Gesicht. Von den allein in Athen lebenden 11.000 Obdachlosen stieg zuletzt vor allem der Anteil an Frauen aus der ehemaligen Mittelschicht. Die Prostitution vervielfachte sich in den vergangenen Jahren um unvorstellbare 1.500 Prozent. Was dies alles für die Lebensrealität unzähliger Menschen bedeutet, ist vor allem eines: tägliches Hungern.

Das südlich vom Stadtzentrum liegende Athener Viertel Neos Kosmos, einst die “Neue Welt” (so die wörtliche Übersetzung) für armenische und griechische Flüchtlinge aus Anatolien und heute ein klassisches Arbeiterviertel, war immer schon arm. Hier gibt es viele Suppenküchen, eine davon ist die Λέσχη Αλληλεγγύης Νέου Κόσμου (Solidaritäts-Klub Neos Kosmos). Auch dieses Projekt ging ursprünglich auf die Idee eines gratis Nachhilfeunterrichts zurück. Als Kinder während des Unterrichts aufgrund von Unterernährung ohnmächtig wurden, richtete die Initiative eine permanente Küche mit täglich warmen Mahlzeiten ein. Zunächst für etwa ein Dutzend alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, heute für mindestens 40 weitere Menschen jeglichen Alters. Zusätzlich verteilt der Solidaritäts-Klub an den Wochenenden Pakete mit Grundnahrungsmitteln an bedürftige Familien.

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Tassos war einst Chefkoch und hatte sein eigenes Geschäft. Eines Tages fand er sich in der Schlange vor der Suppenküche der Agios Sostis-Kirche wieder. Er war mittellos geworden und depressiv. Heute geht er im Solidaritäts-Klub wieder seiner Profession nach und ist verantwortlich für das tägliche Menü. Er möchte der Gemeinschaft wieder etwas zurückgeben, sagt er. Das kleine Klubhaus unweit der U-Bahn-Station Neos Kosmos ist sein neues Zuhause geworden und die Menschen, die er hier jeden Tag trifft, seine neue Familie.

Samstags ist immer viel los im Haus des Solidarität-Klubs. Ein paar Dutzend AktivistInnen treffen sich hier um den Verlauf der wöchentlichen Spendenaktion zu koordinieren: In Gruppen aufgeteilt fahren sie gleichzeitig zu mehreren Supermärkten in der Umgebung. Vor den Eingängen verteilen sie Flugblätter, auf denen um Unterstützung der Initiative gebeten wird. Wer kann und helfen will, möge nach eigenem Ermessen ein paar Nahrungsmittel einkaufen und sie am Ausgang den freiwilligen HelfernInnen übergeben.

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Die Bereitschaft zu helfen ist sehr groß. Nach nur 30 Minuten ist der Einkaufswagen der AktivistInnen am Supermarktausgang randvoll. Und das obwohl gleichzeitig im Markt selbst eine kirchennahe Organisation mit Werbeunterstützung eines großen Privatsenders auch eine Spendenaktion betreibt. Schätzungen zufolge verteilt die orthodoxe Kirche alleine an die 200.000 Mahlzeiten pro Tag. Solidarität hat viele Formen und die Menschen wissen, dass es dieser Tage nicht genug davon geben kann.

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Im Laufe des Nachmittags bringen die AktivistInnen die gesammelten Lebensmittel ins Haus der Solidaritätsinitiative. Darunter ist auch gespendetes Gemüse und Obst von einem nahegelegenen Bauernmarkt. Auch zwei Kartoffelaufläufe von einem solidarischen Imbissladen sind dabei. Ein Teil der warmen Mahlzeiten wird gleich vor Ort ausgegeben und gemeinsam an einem der Tische im Haus gegessen. Andere wiederum kommen nur kurz vorbei und nehmen sich ihre Portion mit nach Hause.

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Grundnahrungsmittel, die in der Küche nicht gleich verarbeitet werden, kommen in ein nahegelegenes Lager, das die lokale Syriza-Verwaltung zur Verfügung stellt. Etwa 200 Rationen, die den Menschen helfen über die Woche zu kommen, werden hier ausgeteilt.

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Makis ist hier in der Nachbarschaft aufgewachsen und hat nach einer Phase der Arbeitslosigkeit begonnen, sich in der Solidaritätsinitiative zu engagieren. Aus seiner Mitgliedschaft bei Syriza macht er kein Geheimnis, betont jedoch, wie alle anderen politisch Aktiven, die parteipolitische Unabhängigkeit der Arbeit in den Solidaritätsstrukturen.

Auf dem Rücksitz seines Mopeds fahren wir diesen Nachmittag durch das Viertel. Immer wieder bleibt er stehen um Bekannte zu grüßen. Es scheint so, als würde ihn in der Gegend jedEr kennen. „Falls ich die Leute hier jemals anlügen sollte“, sagt der sympathische Mitdreißiger mit Dauerlächeln, „dann Reißen sie mir am nächsten Tag den Kopf ab.“

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Ortswechsel. Unterdessen erprobt ein Gemeinschaftsprojekt im Athener Vorort Elliniko seit 2011 die Ernährungssouveränität. Auf dem Gelände eines ehemaligen Flughafens und einer aufgelösten US-Militärbasis befindet sich der „Αυτοδιαχειριζόµενος Αγρός Ελληνικού”, die „selbstorganisierte Farm in Elliniko”. Anders als die meisten kollektiven Gärten im Großraum Athen (mindestens 8), die oft durch illegale Landbesetzung entstanden sind, wird die selbstverwaltete Farm von Elliniko mittlerweile mit Ressourcen und Geräten von der Kommunalverwaltung unterstützt und sogar gefördert. Dabei hat das Projekt diese Unterstützung, nicht zuletzt durch den Bürgermeister der Munizipalität selbst, dringend notwendig. Denn das nunmehr brachliegende Gelände im Elliniko – in etwa drei Mal so groß wie Monako – ist Zentrumnahes, höchst begehrtes Bauland und seit Jahren im Blickfeld der von der Troika auferlegten Privatisierungsmaßnahmen. Ausländische Investoren planen hier ein Milliardenprojekt: Neben Grünflächen vor allem Jachthäfen, Shopping Malls, Kasinos und ein „high-end landmark architectural building for luxury apartments”, wie es in den Bebauungsplänen von „Lambda Development” heißt – dem einzigen Bieter der unter der geheim operierenden Treuhandgesellschaft „TAIPED” geleiteten Auktion. Mitte 2016 soll der Spatenstich erfolgen. Doch bis dahin kommen Spaten und sonstige Gartengeräte anderweitig zum Einsatz. Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten bauen hier auf einer Fläche von 2.500 Quadratmetern das ganze Jahr über Obst und Gemüse auf biologische Weise an. Zusätzlich bewirtschaftet die Initiative mittlerweile in etwa 1.500 Olivenbäume auf 4 Hektar. Was vor einigen Jahren als spontane Idee von zehn Personen in Ellinko begann, ist heute Symbol des Widerstandes gegen die Exploitation von Umwelt und gemeingesellschaftlicher Ressourcen.

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Landwirtschaftliche Arbeit war für die meisten Beteiligten des Gartenprojektes zu Beginn ihres Engagements etwas Neues und durchaus mit einem gewissen Lernprozess verbunden. Fachliche Beratung und Unterstützung erhält die Initiative deshalb von BiologInnen der Universität Athen, erzählt Anna, die von Anfang an hier mitarbeitet. Zur Verwendung kommen ausschließlich nicht-hybride Samen, eine Kultivierung mittels Kunstdünger oder Pestizide sei ebenso tabu, führt Anna fort und zeigt Reihen von Setzlingen, die gerade für die Bepflanzung vorbereitet werden. Auch wenn das Erlernen nachhaltiger Produktionsweisen und die Befähigung zur Selbstversorgung im Mittelpunkt ihrer Beschäftigung auf den Feldern stehe, so hätten sich die Mitglieder des Projektes dazu entschlossen, einen Großteil der Erträge nicht für sich selbst zu behalten, sondern stattdessen an die Gemeinde weiterzugeben, die dann die Produkte an Bedürftige weiter verteile. Die meisten Aktiven der Initiative hätten einen Job, deshalb sei der Eigenbedarf nicht so groß. Für die Zukunft stelle man sich aber vor, vermehrt Arbeitslose mit einzubeziehen, so Anna weiter, die im Gartenprojekt auch flächenmäßig großes Ausbaupotential sieht.

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Zwar übernimmt die Gemeinde die Kosten für die Bewässerung und unterstützt das Projekt mit Geräten und Maschinen, das Kollektiv bleibt aber selbstverwaltet. Planung und Organisation, sowie alle laufenden Arbeiten am Feld – von Aussaat und Pflege, bis hin zur Ernte – werden von den AktivistInnen selbst erledigt. Eine strikte Arbeitsaufteilung gibt es nicht, alle Beteiligten engagieren sich nach eigenem Ermessen und dem jeweiligen Know-How entsprechend.

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Folgt man den Ausführungen von Panos, der in der Stadtplanung beschäftigt ist und seit Beginn des Projektes aktiv, so ist die selbstbestimmte landwirtschaftliche Produktion innerhalb urbaner Flächen auch als politische Aktion zu sehen. Ihre Tätigkeiten und ihr Handeln im Sinne einer alternativen, solidarischen (Parallel-)Ökonomie, sehen die AktivistInnen des Gemeinschaftsgartens als Antwort auf die Krise und ihre ökonomischen, ökologischen, sozialen sowie bildungsbezogenen Erscheinungsformen. Neben der Inanspruchnahme öffentlichen Raumes und der Selbstbefähigung unterer Einkommensschichten, habe sich die Initiative, laut Eigenbeschreibung, auch die Vermittlung von Wissen über eigenständige biologische Agrarproduktion zum Ziel gesetzt. In regelmäßigen Abständen finden deshalb auf dem Gelände des Gemeinschaftsgartens Workshops und Schulungen statt. Außerdem nehmen die Mitglieder der Gruppe mit Infotischen an Gemeindeveranstaltungen und anderen Gelegenheiten teil.

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Das Gelände und die vorhandene Infrastruktur rund um den Gemeinschaftsgarten in Ellinko ist auch eine beliebte Gaststätte für mehrere alternative Großveranstaltungen. Zum Zeitpunkt meines Besuches fand dort gerade das vierte „Festival for Solidarity & Cooperative Economy” („festival4sce“) statt, ein Vernetzungsteffen und Come-Together verschiedener nationaler und internationaler Solidaritätsgruppen. Auf dem Programm der abgehaltenen Workshops fanden sich Titel wie „How to cook a Non-Violent Revolution”, „Hacking the money system to insert the virus of cooperation worldwide” oder „Social Cooperatives as a solution to the crisis: Applications-Law-Problems”. Zusätzlich beherbergte das Gelände einen alternativen Markt, wo ProduzentInnen unter Ausschaltung gesteuerten Zwischenhandels direkt an VerbraucherInnen verkaufen konnten. Eine Strategie, die im Übrigen spätestens seit der landesweiten sogenannten „Kartoffelbewegung” immer mehr Verbreitung findet und die sich in Zeiten der Rezension und fallender Gewinnspannen als probates Mittel für alle Betroffenen erwiesen hat.

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Die Stimmung hier in der Nähe der verlassenen Rollfelder und der Ruinen der ehemaligen Militärbasis finde ich schlichtweg ergreifend. Ich treffe auf JournalistInnen und AktivistInnen aus den verschiedensten europäischen Ländern. Sie alle sind hierher gekommen um den Umbruch, in dem sich das Land gerade befindet, zu dokumentieren und davon zu berichten. Als ich mich spätabends auf den Heimweg mache, bemerke ich ganz nebenbei am Rande des Geländes ein modernes Gebäude, das mir vorhin nicht weiter aufgefallen ist. Es ist die „Metropolitan Community Clinic“ von Elliniko – wie ich später erfuhr, die größte solidarisch-medizinische Einrichtung des Landes.